DE
SEI SOLO
SONATEN & PARTITEN
VON J.S. BACH
Es gibt zahllose Einspielungen der Sonaten und Partiten für Violine solo von J.S. Bach.
Was, außer der Lockung der Herausforderung, gibt Anlass zu einer weiteren?
Als in den 1980er Jahren die Fresken der Sixtinischen Kapelle in Rom gereinigt wurden, traten ungewohnt bunte und leuchtende Farben unter dem braunen Schleier aus Ruß und Staub zutage. “Bonbonfarben”, sagten manche, und beklagten, dass der Anblick, den Goethe schon genossen, nun auf immer verloren sei. Gleichwohl kommen die nunmehr sichtbaren Farben nicht nur Michelangelos Absicht sehr viel näher. Sie verleihen nämlich der Komposition eine bessere Lesbarkeit, größere Transparenz und Übersichtlichkeit, wodurch die dargestellten Geschichten lebendiger werden. Etwas Vergleichbares strebe ich mit meiner Interpretation der Bach-Solosonaten an. Man “kennt” die Stücke ja, sie werden seit Jahrhunderten aufgeführt und seit Jahrzehnten auch aufgenommen. Im Lauf der Zeit haben sich Spiel- und Hörgewohnheiten etabliert, und die Bach-Rezeption hat ein Übriges getan, diesem Repertoire zwar keinen braunen Schleier, dafür aber eine Art Heiligenschein beizufügen, der mit Hilfe der Erkenntnisse und Prinzipien der Historischen Aufführungspraxis erst einmal wieder abgelegt werden sollte.
Doch hinkt mein Vergleich an einer ganz entscheidenden Stelle: In der Musik genügt es nicht, die Ablagerungen der Tradition zu entfernen. Man muß Musik bei jedem Spielen ja immer neu erfinden und zum Leben erwecken, sie ist nicht per se da, sondern nur, wenn sie erklingt. Eine inhaltliche, nicht nur stilistisch-formale Neuorientierung wird also möglich. Man erstarrte ja förmlich vor der Erhabenheit des “alten” Bach, dessen in der Tat unergründliche musikalische Weisheit der Interpret mit viel Pathos, möglichst ausführlich, aber ansonsten neutral vermitteln wollte. Bach war, als er die Solo-Sonaten und -Partiten komponierte, keineswegs “alt”, sondern ein junger Mann von gerade mal 30 Jahren. Von abgeklärter Erhabenheit kann also keine Rede sein. Krasse Geschichten, pralles Leben, Witz und Waghalsigkeit werden hier präsentiert. Man kann diese ganze dramatische und dynamische Welt als Interpret erst erkennen, wenn man sich des Pathos und des Heiligenscheins entledigt hat. Und das ist der inhaltliche Mehrwert, den zu Gehör zu bringen ich mir zur Aufgabe gemacht habe.

Sonaten und Partiten von J.S. Bach:
Aspekte der historischen Aufführungspraxis
Die historische Aufführungspraxis hatte sich ja zum Ziel gesetzt, Musik so zu interpretieren, dass sie möglichst so klingt wie zur Zeit ihrer Entstehung. Dafür wurde die Beschaffenheit der Instrumente, ihre Spieltechnik und nahezu alle Aspekte der Interpretation in Frage gestellt und neu diskutiert.

Inzwischen ist das Musizieren nach den Vorgaben der historischen Aufführungspraxis fest etabliert, namentlich für Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, auch die Hörerwartung hat sich entsprechend gewandelt. Bei Interpretationen der Solo-Sonaten für Violine von J. S. Bach allerdings sind diese Vorgaben und Erkenntnisse bisher in vieler Hinsicht nicht zum Tragen gekommen. Das mag an der mangelnden Bereitschaft liegen, die in diesem Fall besonders intensiv empfundenen traditionellen Hörgewohnheiten zu enttäuschen, an dem geradezu sakralen Stellenwert besonders einzelner Sätze, oder auch an dem violintechnischen Aufwand, der einer Neuorientierung im Wege steht. Nehmen wir als Beispiel den vielleicht prominentesten Satz der Sammlung, die berühmte Chaconne aus der d-moll Suite. Auch Interpreten mit historisch informierter Herangehensweise machen gemeinhin aus diesem Stück ein Largo. Dadurch wird zwar noch 32teln zu unbeabsichtigter Individualität verholfen, metrische Muster, wie sie für einen Dreiertakt und namentlich für eine Chaconne typisch und charakteristisch sind, gehen dagegen verloren. Man nimmt das in Kauf, weil es sich ja um die Chaconne handelt, deren Interpretations-Tradition offenbar ungebrochen weiterhin als gültig erachtet wird. Und das, obwohl keinerlei Grund zur Annahme besteht, Bach könnte in diesem besonderen Fall mit “Ciaccona” etwas anderes gemeint haben als was bei ihm selbst und seinem Umfeld sonst üblich war. Zur Charakterisierung eines Tanzsatzes gehört eben auch die Tempowahl, eine Vorgabe, der ja auch bei der Interpretation von Bachs Suiten für Cembalo Rechnung getragen wird. Dabei ist die oft aufgeworfene Frage, ob solche Stücke tatsächlich getanzt wurden, gar nicht so relevant. Nein, sie wurden nicht getanzt, getanzt wurden nämlich nicht Suiten (und wenn doch, allenfalls als choreografierter Bühnentanz), sondern Abfolgen gleichartiger Tänze.
Gerade ein damaliger Hörer wird aber gleichwohl Wert darauf geleg haben, sich die dazugehörigen Bewegungsabläufe jeweils zumindest vorstellen zu können, was den Temporahmen zwar etwas dehnt, aber keineswegs völlig aufhebt. Viele violintechnische Fragen hinsichtlich der Historischen Aufführungspraxis bleiben indessen offen. Sicherlich erfordert eine außergewöhnliche Besetzung (Violine ohne Begleitung) auch eine außergewöhnliche Technik (Mehrstimmigkeit). Doch stellt sich die Frage, welcher Geiger die Sonaten und Partiten zur damaligen Zeit überhaupt spielen konnte bzw. wollte und wie und in welchem Rahmen man sich ihren Vortrag vorzustellen hat. Überdies ist mit dem, was man heutzutage für “barocke” Violintechnik hält, dieser Musik technisch gar nicht beizukommen. Unsere Kenntnis darüber speist sich aus den wenigen zeitgenössischen didaktischen Werken, die Anleitungen auf virtuoses Violinspiel schon deshalb vermissen lassen, weil in dieser Hinsicht kompetente Virtuosen kein Interesse hatten, ihre technischen Kniffe preiszugeben. Trotzdem sind anspruchsvolle Violinkompositionen eines Vivaldi, Pisendel oder gar Locatelli irgendwie technisch untereinander kompatibel, die Solowerke von Bach fallen demgegenüber aber völlig aus dem Rahmen. Heißt das schließlich, dass hier jeder greifen und streichen kann, wie er mag? Erklärt das, warum (sehr überspitzt ausgedrückt) moderne Geiger dieses Repertoire (stilistisch) nicht verstehen und Barockgeiger (technisch) nicht meistern? Aber wir drehen uns im Kreis: es gibt für die Sonaten und Partiten technisch gar keine historische Aufführungspraxis, denn es gibt aus ihrer Zeit keine vergleichbare geigerische Praxis, weder bei Bach selbst noch bei seinen Zeitgenossen. Wer also soll sie damals gespielt haben, und wie mag das geklungen haben? ㅤ

J.S. Bach
Chaconne, Partita No. 2 BWV 1004

 
Hat jemals
ein Componist
DIE VOLLSTIMMIGKEIT IN IHRER GRÖßTEN STÄRKE GEZEIGET;
so war es gewiß unser seeliger Bach.
ein Componist
EIN TONKÜNSTLER DIE VERSTECKTESTEN
Geheimnisse DER Harmonie in
DIE KÜNSTLICHSTE AUSÜBUNG GEBRACHT;
so war es gewiß unser Bach.
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